Landschaft als die von Gott beseelte Natur
1818 – eine Jahreszahl, die allgemeinhin als Erschaffungsjahr des Gemäldes gilt, ist lediglich eine Annahme. Ja -Caspar David Friedrich unternahm im Jahr 1818 mit seiner Frau Caroline und seinem Bruder und dessen Frau im Sommer eine Reise nach Rügen. Aus der modernen Sichtweise wird dies oft als Hochzeitsreise betitelt, auch wenn es dieses Konzept zu dem Zeitpunkt so nicht gab. Auf dieser Reise entstanden auch verschiedene Skizzen, die mit in das Gemälde einflossen. Wann aber genau Friedrich mit dem Werk in seinem Dresdner Atelier begann und es vollendete ist nirgendwo festgehalten, denn der Künstler, der jede Skizze akribisch datierte und verortete, signierte seine Gemälde nie mit Namen und Datum. Aktuelle Forschungen vermuten, dass das Gemälde zwischen 1818 und 1820 entstand.
Normalerweise findet man das Gemälde im Kunst Museum Winterthur in der Schweiz. Es kam durch die Stiftung Oskar Reinhart 1930 in den Besitz des Gemäldes. Anlässlich des Jubiläumsjahres geht das Originalgemälde auf Reisen und ist 2024 in den Orten Hamburg, Berlin, Dresden und vor allem in der Geburtsstadt des Malers Greifswald im Pommerschen Landesmuseum vom 18. August bis 06. Oktober zu sehen.
Auch wenn sich diese Annahme hartnäckig hält, so sah Caspar David Friedrich die Wissower Klinken, wie wir sie kennen und kannten, nie. Denn diese waren noch von Vegetation und Boden verborgen. Hinzu kommt zu dieser verwirrenden Einordnung, dass es mehrere Klinken gab – die „Kleinen“ und die „Großen“ Wissower Klinken. Die Kleinen lagen ca. 200 m südlicher und existierten tatsächlich auch schon auf topographischen Karten um 1830. Die großen Klinken kamen durch Erosionsprozesse erst etwa um 1860 zum Vorschein. Bis 1972 herrschte eine friedliche Koexistenz bis dann die letzten Reste der kleinen Klinken abstürzten.
Obwohl die kleinen Klinken auch steile Kreidenadeln waren, so ist die Ähnlichkeit zu den Nadeln der kleinen Stubbenkammer im Vergleich mit ersten Fotografien, Ansichtskarten und Gemälden sowie Stichen anderer Künstlern den Skizzen von Friedrich viel ähnlicher. Hinzu kommt, dass die populärwissenschaftlichen Verortung des Gemäldes auch erst nach Abbruch der kleinen Klinken in die breite Gesellschaft vordrang und der Vergleich mit den großen Klinken daher schon immer hinkte.
Wie Friedrich einst schrieb, dass er in der Brust das Irdische, was nach unten in den Abgrund guckt, hat, genauso habe er auch das in sich, was nach oben guckt und Christus ergeben ist. Diese Stimmung der Zeit und dieses Wechselspiel, welche auch Kosegarten umschrieb mit „Der Mensch ist Tier und Engel“, verdeutlicht Friedrich in seinem Gemälde „Kreidefelsen auf Rügen“ in vielen Elementen, schon allein in der gewählte Landschaft der Kreidefelsen mit ihrer Höhe und Tiefe an sich. Es ist ungewöhnlich von Friedrich ein hochformatiges Landschaftswerk zu betrachten, denn normalerweise waren diese im Querformat. Doch das gewählte Format unterstützte den Effekt der eindrucksvollen Höhe und Tiefe der Rügener Kreidefelsen zu zeigen. Auch das Element der Nähe und der Ferne zeigt sich in den Seglern. Einer fährt in die Ferne der Ewigkeit – dem Gottes Wort-, der unendlichen Fläche der Ostsee, die keinen wirklichen Horizont erkennen lässt, entgegen. Der andere Segler hingegen kommt näher und fährt in den „Abgrund“, da der Strand komplett weggelassen wurde, erscheint die Tiefe noch viel eindrucksvoller.
Auch die Bäumen und Kreidefelsen zeigen die Vergänglichkeit sowie das Aufrichten gleichermaßen. Der rechte Baum ist fest verwurzelt und hält mit seinen Ästen den kleineren linken, welcher kurz vorm Absturz steht. Die Kreidefelsen weisen schwungvolle nach oben gerichtete Linien auf und zu gleich sich schon gelöste Steine und damit ihre Vergänglichkeit.
Oft wird vermutet, dass Friedrich auf das Bild seine Reisegesellschaft der Reise 1818 verewigte. Jedoch reiste Friedrich hier neben Frau Caroline auch mit seinem Bruder Christian und dessen Frau Elisabeth. Wenn die Personen die Gesellschaft darstellen sollten, würde Elisabeth fehlen. Viel passender ist es, dass Friedrich auch in den Figuren, die gewählte Symbolik des Gemäldes, des Aufrichtens und der Vergänglichkeit, weiter ausführt.
Der liegende Mann erscheint Friedrich mit seinem Backenbart und der Kopfform zunächst sehr ähnlich. In bürgerlicher Kleidung schaut er maßgeblich in den Abgrund und folgt den damaligen Reiseanweisungen,
sich sicherheitshalber auf den Bauch zu legen, um die Aussicht zu genießen. Friedrich selbst trug übrigens bei Wanderungen eher einfache Kleidung und keinen Zwirn, wenn er seine geliebte Insel erkundete.
Der stehende Mann steht in der typisch altdeutschen Tracht für das Gegenteil. Schon fast lässig lehnt er sich an den Baum und hält sich nicht fest. Sein Blick gilt der Ferne und dem weiten Ausblick. Er vereint die Frömmigkeit mit liberalen Ideen seiner Zeit. Beide Männer symbolisieren die innere Zerrissenheit des Künstlers.
Während jegliche Motive im Bild ein Pendant haben, so ist die Frau in ihrem roten Kleid gänzlich alleine. Doch hier ist es so, die Frau steht für die Liebe und die Liebe an sich vereint bereits das Oben und das Unten. Zusätzlich weist sie mit dem Finger auf die roten Blumen, Lichtnelken, welche sich ebenfalls bedeutungsschwer dem Licht, der Ewigkeit entgegenrichten.
Auch bedeutende Maler haben ihre Schwächen und Stärken sowie Vorlieben und Abneigungen. Es wird oft gesagt, dass Friedrich nicht gut Menschen malen konnte. Dies stimmt nicht so ganz. Wenn er wollte, konnte er dies auch sehr gut, allerdings war es keine Vorliebe von ihm und nicht die entscheidenden Punkte in seinen Gemälden. Daher bevorzugte er in seinen Gemälden eher die Rückenpartie bzw. setzte die Personen im Verhältnis eher kleiner ins Bild, um die Schwäche zu kaschieren.
Viele von Friedrichs Gemälden sind nach seinem Tod erst einmal verschwunden. Erst durch Auktionsbücher tauchten viele der Gemälde wieder auf. Darunter das Gemälde „Kreidefelsen auf Rügen“ im Jahr 1903. Es landet bei dem Carl Blechen-Sammler Prof. Carl Frenzel, denn das Gemälde wird zunächst dem Berliner Maler Carl Blechen zugeordnet, der zu dem Zeitpunkt viel bekannter war als Friedrich. Als es 1915 wieder versteigert und vom deutsch-jüdischen Unternehmer Julius Freund gekauft wird, taucht auch ein Hinweis auf, dass es aus dem Besitz des Prinzens Georg von Preußen gekommen und somit die Forschung einen Schritt näher bringt, wo es vor der Jahrhundertwende verlieb. Ab dem Kauf befand sich somit das Gemälde zunächst in Berlin in Freunds Privatwohnung. In den folgenden Jahren entpuppt sich auch das vermeintliche Blechen-Bild als ein Friedrich. Denn 1920 war der Kunstberater Körner, ein Carl Blechen Spezialist, zu Besuch bei Julius Freund und ordnete das Gemälde Caspar David Friedrich zu. Mit Ausbruch der Weltwirtschaftskrise sowie dem Aufkommen des Nationalsozialsozialismus nimmt Freund Kontakt nach Winterthur in der Schweiz auf. Das Kunst Museum hat aber zunächst kaum Interesse und kauft nur vier Werke ab. Allerdings kommt Freund mit dem Unternehmer Oskar Reinhardt in Kontakt, welcher ihm unteranderem 1930 das Friedrich Gemälde abkauft. Ein Glück für die Nachwelt, denn 1945 wird die Wohnung von Freund zerbombt und das Gemälde hätte dies nicht überlebt.